Ein Bericht von Heidi Kolboske; die Fotos sind von der Paracelsus Schule Hannover.

„Borderline inklusive – das Schweigen durchbrechen“

Familien, in denen es Menschen mit psychischen Erkrankungen gibt, sehen sich auch heute vielfach nicht in der Lage, offen damit umzugehen. Gründe hierfür sind vielfältig und reichen von befürchteter oder tatsächlicher Ausgrenzung, Diskriminierung, Stigmatisierung bis hin zu offener oder verdeckter Verachtung.

Gerade in Deutschland mag es hierfür historische Ursachen geben, denke man nur an den Nicht-Umgang mit psychisch erkrankten Menschen im Nationalsozialismus. Diese Menschen wurden als „Reichsausschuss“- oder Ballastexistenzen gebrandmarkt, selektiert und umgebracht. Aufgrund der ideologischen „Rassenhygiene“ waren auch die Familien betroffen, die direkte Angehörige der „Verrückten“ waren, und deren Erbgut als zweitklassig zu gelten hatte, weil ja Geistesgestörte in der Verwandtschaft die ganze Sippe verunreinigten.

Dieses Trauma scheint noch immer tief in der deutschen Gesellschaft verwurzelt, häufig wird nicht darüber gesprochen, dass ein Familienmitglied anders ist als der Durchschnitt. Aber Schweigen kann tödlich sein. Die Notwendigkeit sich zu öffnen, um Hilfe zu bekommen therapeutisch, finanziell und auch personell, indem einem Betroffenen beispielsweise ein Betreuer zur Seite gestellt wird, setzt sich leider nicht in dem Maße durch, wie es angemessen wäre. Es wird höchste Zeit, Menschen, die anders ticken als große Bereicherung für die Gesellschaft wahrzunehmen, eben weil sie anders ticken. Und wer sich beruflich oder privat mit ihnen auseinandersetzt, kann sein blaues Wunder erleben, welches Ausmaß und welche Vielfalt dieser Reichtum annehmen kann.

Ein Mittel für eine solche angemessene Auseinandersetzung ist der Trialog. Betroffene, Angehörige und Behandler treffen aufeinander, um Erfahrungen über ein bestimmtes Störungsbild auszutauschen. Der 31. Mai 2019 stand im Zeichen dieses Austauschs zum Thema Borderline Persönlichkeitsstörung. Veranstaltet wurde dieser Tag vom VFP und gesponsert von der Novitas BKK.

Unter dem Motto „Ausprobieren und Rotieren“ wurden drei erlebnisorientierte Module zur Selbsterfahrung angeboten. Alle Gäste waren eingeladen, nach Belieben jedes Angebot auszuprobieren.

Ein Highlight war sicherlich der von Sabine Thiel (Heilpraktikerin für Psychotherapie und VFP-Mitglied) und Till Meyer (Spieleentwickler) konzipierte Borderline-Parcours.

In mehreren haptischen und virtuellen Stationen konnte man erfahren, wie die Wahrnehmung eines Borderliners verschoben sein kann. Wie verwirrend es ist, völlig unerwartete visuelle, olfaktorische und akustische Reize gleichzeitig verarbeiten zu müssen, wie stressig es ist, eine schier unlösbare Geschicklichkeitsaufgabe unter Flackerlichtbeschuss lösen zu müssen, wenn einem ständig über Kopfhörer eingetrichtert wird, was für ein ungeschickter Trottel man ist, wie bedrohlich eine Welt sein kann, wenn Realität und Virtualität miteinander verschmelzen.

Ein weiteres Angebot war das von Sabine Thiel ins Leben gerufene Trialogische Modul „Ich höre Dir zu“©.

In kleinen Gruppen hatten Betroffene, Angehörige und Behandelnde die Möglichkeit, über ihre Erfahrungen mit Borderline zu berichten, jeder Gesprächsteilnehmer, wie er oder sie das erlebt oder wahrnimmt. Ziel ist eine ungezwungene Begegnung fernab vom psychotherapeutischen Kontext. Angeleitet wurden diese trialogischen Gesprächsgruppen kompetent und souverän von Jost Reinecke, der die Selbsthilfegruppe „Bus“ (Borderliner unter sich) vor vielen Jahren in Hannover gründete und bis heute unterhält. Dabei war es bemerkenswert, wie aufgeschlossen und mitteilsam die TeilnehmerInnen miteinander umgingen. Man sprach über Erfahrungswerte, fragte nach möglichen therapeutischen Interventionen oder auch danach, was zu tun sei, wenn eine Situation mal wieder aus dem Ruder läuft. Es war zu beobachten, dass viele hilfreiche und schöne Gespräche zu Stande kamen und sich erste zarte Bande der Vernetzung anbahnten.

Das mit Abstand lebhafteste Modul jedoch war das Spiel „side by side“®, das ebenfalls von Sabine Thiel in Zusammenarbeit mit Till Meyer und Ronald Hild, beide Entwickler der Firma Spieltrieb, entworfen worden ist. Auch beteiligten sich Betroffene am Entwicklungsprozess, indem sie wertvolle Anregungen für die Realisierung beisteuerten.

An drei Spieltischen zockten Betroffene, Angehörige und Behandler was das Zeug hielt – offenbar gibt es also nicht nur problematische Erfahrungen zum Thema Borderline. Durch die Herangehensweise mit einem Spiel kann man auch eine gehörige Portion Spaß und Leichtigkeit mit diesem an sich schwerwiegenden, komplexen Themenbereich erleben.

Im Wesentlichen geht es darum, seine eigenen Reaktionen zu überprüfen und emphatisch auf seine Mitspieler zuzugehen, unter anderem durch Rollenspiele oder kleine Aufgaben, die es im Beisein der anderen zu lösen gilt.

Das ist gar nicht so einfach, wie sich das anhört, denn manche Aufgaben können einem schon deutlichen Unbehagen verursachen. Das Schöne hierbei ist aber der zwanglose Ablauf, wer sich momentan außer Stande sieht, eine Aufgabe zu erfüllen, nimmt sich einfach eine Auszeit.

Auf jeden Fall war man intensiv und mit Spaß bei der Sache, was man dem immer wieder aufwallenden schallenden Gelächter aus dem Spielzimmer unschwer entnehmen konnte.

Der Nachmittag war in mehrere Informationsabschnitte aufgeteilt.

Zwei gesetzliche Betreuerinnen von der Region Hannover beantworteten Fragen von Angehörigen und Betroffenen, die gerne wissen wollten, wer überhaupt auf Betreuung Anspruch hat und wie man eine gesetzliche Betreuung in die Wege leitet.

Sabine Thiel beantwortete Fragen zum Thema Angehörigengruppen und Vernetzung und Jost Reinecke stand zum Thema Selbsthilfegruppen, Gründung, Leitung aber auch Grenzen Rede und Antwort. Auch hier wurden nicht nur Informationen, sondern auch Kontaktdaten ausgetauscht, es bleibt zu hoffen, dass der beginnenden Vernetzung hilfreicher und weiterführender Austausch folgen wird.

Mit Spannung wurde der Vortrag von Dr. med. Thorsten Sueße erwartet, der einen umfassenderen und interessanten Einblick in das umfangreiche Aufgabenfeld des sozialpsychiatrischen Dienstes Hannover bot.

Dank dieses Vortrages ist der Begriff „sozialpsychiatrischer Dienst“ nicht mehr nur eine unbekannte konturlose Instanz, zu welcher wir jemanden schicken sollen, wenn wir selbst nicht eingreifen können. Dank der anschaulichen Informationen wissen wir jetzt sehr viel mehr über das vielfältige Hilfsangebot, die Struktur und die personelle Aufstellung. Alle, die diesen Vortrag anhörten, werden davon auf die eine oder andere Weise profitieren können.

Den Abschluss dieses Tages gestaltete der Heilpraktiker und Psychologe Thomas Schnura mit einem Initialvortrag und anschließendem Gespräch zum Thema „Ich weiß es ist verkehrt, ich tue es aber trotzdem – BPS und Suchtverhalten“.

Dabei war es im höchsten Maße erstaunlich, welche Wendung das Gespräch nahm, als es Fahrt aufgenommen hatte. Auch hier überraschte wiederum die Offenheit, mit welcher Einzelne von ihren persönlichen Erfahrungen berichteten. Zunächst war auch von Substanzmissbrauch die Rede, dann jedoch wurde der Bogen geschlagen zu selbstverletzendem Verhalten, um schlussendlich beim wichtigen Thema Suizidalität zu landen. Dabei war es ausgesprochen angenehm zu beobachten, dass dieser Entwicklung auch Raum gegeben und nicht sklavisch am Ausgangsthema festgehalten wurde.

Hier einige Impressionen des Tages:

Was an diesem Tag deutlich wurde, war wieder einmal, dass Borderline ein Thema mit Potenzial ist, ebenso wie Betroffene Potenzial besitzen. Angemessene Hilfestellung ermöglicht die Ausschöpfung dieses Potenzials. Das sollte umso mehr geschehen, wo doch Inklusion heutzutage ein Begriff in aller Munde ist. Umso schwerer ist es nachvollziehbar, dass Menschen aus der Gesellschaft oder vom Arbeitsleben ausgegrenzt werden, weil sie unter einer BPS leiden. Der Trialog kann dabei helfen verstehen zu lernen, zu entmystifizieren, anzunehmen.

Man muss nur aufeinander zugehen, der 31. Mai in Hannover war ein erster Schritt.