„Borderliner sind doch die, die sich ritzen?“

Falsch!
Borderline wird als solche Persönlichkeitsstörung erkannt und diagnostiziert, wenn 5 von 9 Kriterien erfüllt sind. Nur eine dieser 9 bezieht sich auf Selbstverletzendes Verhalten (aber gleichzeitig auch auf Suizidandrohungen und –handlungen). Das bedeutet im Klartext: Es gibt einige Betroffene, die sich nicht selbst verletzen. Und die, die sich selbst verletzen, ritzen oder schneiden sich in vielen Fällen nicht die Haut auf, sondern verbrennen diese, schlagen sich o.ä.
„Ritzen“ scheint für die Öffentlichkeit das bekannteste Kriterium von Borderline zu sein, was es in meinen Augen nicht sein sollte. Aber was genau es für mich bedeutet, den Alltag mit Borderline zu bewältigen, darauf komme ich gerne ein anderes Mal.

 

Aber warum verletzt sich ein Betroffener selbst?

Ich kann hier natürlich immer nur von mir selbst und dem, was ich bereits von anderen erfahren habe, ausgehen.
Um die Frage nach dem „Warum?“ zu beantworten, gehe ich auf zwei Punkte ein, die Teil der Reflektion und Selbsthilfe sind und ich persönlich möchte jedem Betroffenen, der sich selbst verletzt, raten sich mit diesen auseinander zu setzen. Auf Dauer gesehen kann dies Prävention sein.

Ich bitte dennoch einen Betroffenen, der das hier liest, kurz in sich zu gehen, die Seite zu wechseln oder zu minimieren und sich zu fragen, ob das Lesen meines Berichts eventuell zu aufwühlend sein könnte (keine ausgemalte Schilderung der Selbstverletzung selbst vorhanden). Zu einem späteren Zeitpunkt mag er dann mehr Früchte tragen.

 

Wie fühle ich mich vor der Selbstverletzung und wie baut sich diese Anspannung auf?

Das ist die erste zu klärende Frage.
In meinem Fall erlebe ich eine Situaion, in der meine Liebenswürdigkeit von außen oder innen infrage gestellt wird. Das geschieht oftmals erst am Ende einer Kette von Reaktionen und kann durch einen Misserfolg, Streit, fehlende Aufmerksamkeit, Erinnerung an Enttäuschungen oder Übergriffe etc.  ausgelöst werden. Diese Reaktionen geschehen in meinem Kopf innerhalb von wenigen Sekunden und sind in stark erschütternden Situationen und für jemanden, der sich damit noch nicht auseinandergesetzt hat, kaum zu unterbrechen. Der Zweifel an mir und meiner Liebenswürdigkeit führt zu einem Tunnelblick. Ich blende unkontrolliert alles außerhalb dieses zermürbenden Gefühls aus und bin nur noch Schmerz, was zu Pulsanstieg, Konzentrationsverlust und Aggressionen auf mich selbst führt.

 

Welche Gefühle werden durch die Selbstverletzung ausgelöst?

Die zweite zu klärende Frage zeigt das Ziel der Selbstverletzung an.
Während der Selbstverletzungshandlung spüre ich bereits einen Abfall der Anspannung, jedoch höre ich nicht auf, bevor die Anspannung fast gänzlich weg ist. Schnell werde ich ruhiger, mein vorher unscharfer Blick schärft sich wieder, meine Gedanken werden klarer. Ich kann die erlebte Situation fassen und nicht mehr nur emotional bewerten. Der Tunnelblick löst sich auf, meine Umgebung ist wieder da und ich spüre mich im Hier und Jetzt als selbstwirksamen Menschen. Vielleicht traurig oder wütend wegen der zuvor erlebten Situation, aber gefasst.

Der Kontrast von vorher und nachher ist also heftig und erinnert an einen Menschen, der süchtig nach einer Droge ist. Vorher ist er in einem Tunnel gefangen, hat erhöhten Pulsschlag, zittert womöglich, atmet schwer. Danach ist er erleichtert, atmet wie nach einem Marathon tief ein und aus, und kann sich wieder den Dingen widmen, die da kommen – alltägliche Pflichten, ein Gespräch usw.

 

Sollte die Selbstverletzung mit allen Mitteln verhindert werden?

Ich sage: Jein. Nicht mit allen Mitteln. Die Selbstverletzung stellt für einen Menschen am Anfang der Therapie oder auch der Selbsthilfe immer noch das einzig mögliche Ventil dar. Bin ich bereits in meinem Tunnelblick gefangen, hilft mir nur die Selbstverletzung, meine Anspannung los zu werden. Durch Arbeit an mir selbst gelingt es mir heute in 99 von 100 Situationen, die Kette meiner Reaktionen zu unterbrechen und die Anspannung greifen zu können. Dann können Skills angewendet werden, um die Selbstverletzung zu verhindern.

Schätzungsweise jeder besorgte Angehörige möchte seinen geliebten Menschen davor bewahren, sich erneut zu verletzen, weil die Selbstverletzung als eine dauerhaft bleibende Schädigung des Körpers wahrgenommen wird und deswegen zu vermeiden gilt. Dabei fehlt es dieser Sicht natürlich an Ergänzung durch den Betroffenen.

Angenommen, der Betroffene steht am Anfang seiner Therapie und verletzt sich bis dato mehrmals täglich mit scharfen Gegenständen. Nun nimmt der Angehörige dem Betroffenen jeden Zugang zu scharfen Gegenständen im Haus. Damit wird dem Betroffenen sein bislang vertrautes und „funktionierendes“ Ventil durch eine Vertrauensperson genommen. Das kann zunächst sogar einen Knacks im Vertrauensverhältnis für den Betroffenen bedeuten. Viel schlimmer ist jedoch, dass der Betroffene noch gar nicht immer in der Lage ist, auf ein anderes Ventil zuzugreifen. Die Folgen von Anspannung, die sich immer weiter aufbaut und nicht abgebaut werden kann, können verheerend sein und viel schmerzhafter und endgültiger, als eine bleibende Narbe.

 

Ritzen ist doch ein Hilfeschrei!

Auch hier: Jein. Definitiv kann ich von mir und den Betroffenen, mit denen ich mich unterhalten habe, sagen: Wir verletzen uns nicht, damit andere Menschen unsere Verletzungen sehen und uns ansprechen. Im Gegenteil: Die meisten halten ihr Selbstverletzendes Verhalten über Jahre vor den engsten Angehörigen geheim und haben ein intensives Schamgefühl, sodass sie penibel darauf achten, ihre Verletzungen stets zu bedecken. Wie anstrengend das im Sommer sein kann, kann sich jeder denken.

Ich trage meine Narben heute offen und denke kaum noch daran. Wenn doch, bin ich froh heute noch hier zu sein und sie zeigen zu können, nach all dem Schmerz. Und eine leise Hoffnung, auch für andere Betroffene damit ein Zeichen zu setzen oder ein Vorbild zu sein, ist da auch.

Selbstverletzung ist in meinen Augen nur insofern ein Hilfeschrei an den Betroffenen selbst: Mein psychischer Schmerz erdrückt mich, ich muss ihn durch körperlichen ausdrücken – ich brauche Hilfe, da stimmt was nicht.

Und auch deswegen möchte ich nochmal betonen: Wer einen Menschen begleitet, der sich selbst verletzt, sollte eins bedenken. Nicht die Selbstverletzung ist das Schlimmste. Das Schlimmste ist das, was du nicht siehst. Und daran muss gearbeitet werden – dann braucht der Betroffene auch bald nicht mehr ein Ventil, das für einen gesunden Menschen verständlicherweise nicht empathisch nachzuvollziehen ist.